Tantramassage nach sexuellem Missbrauch? #2 – Der Sex ist Nebensache

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In der Einleitung zum Thema habe ich dargestellt, dass verschiedene Aspekte auf die Begegnung von Tantra und Trauma einwirken. Hier findest du die Ausführung zum ersten möglichen „Stolperstein“: dem sexuellen Fokus bei Missbrauch.

Denn je wacher wir für diesen Punkt sind, desto geborgener und fruchtbarer können wir tantrische Elemente nutzen, um unseren erotischen Raum zu erweitern. Viel Spaß beim Lesen!

I. Der sexuelle Fokus bei sexuellem Missbrauch

SEX. Wo das Wort „Sex“ steht, starren alle auf: „Sex“.

Wenn es um sexuelle Traumata geht, ist diese Angewohnheit ein Fehler. Wo „sexuelles Trauma“ steht, sollten wir „Trauma“ anschauen, nicht „sexuell“.

Warum?

Weil sexueller Missbrauch in erster Linie als ein Trauma funktioniert und heilt, nicht als eine Fachfrage in Sachen Sex. Natürlich erleben wir die Auswirkungen von sexueller Heilung auch im Sex, aber dennoch liegt dieser Veränderung eine Traumaheilung, keine „Sexheilung“ zu Grunde.

Im ersten Schritt plädiere ich also dafür, dass wir sexuelle Traumata traumaspezifisch betrachten, selbst wenn wir hier im Text noch nicht genau klären können, was das bedeutet. So vieles, was an unserem eigenen gefangenen Verhalten Fragen aufwerfen und uns quälen kann, enträtselt sich nirgendwo so schlicht und liebevoll wie bei einem traumaspezifischen Blick auf unsere Geschichte.

Wir sollten dieser Entlastung den Vorzug geben, statt uns von „Sex“ hypnotisieren zu lassen.

Traumaspezifisch heißt nicht unbedingt, dass wir unsere Themen „einsperren“ müssen in die Praxisräume von ausgewiesenen Therapeutinnen. Wo wir aber bemerken, dass wir massiv unter unserer Vergangenheit leiden, dass wir mit herkömmlichen Tipps und Vorschlägen aus unserer Umwelt nicht weiterkommen und dass sie uns vielleicht im Gegensatz eher verwirren, belasten und quälen, dann sollten wir uns ein Grundwissen darüber aneignen, wie unsere Nervensysteme Traumata regulieren.

Trauma ist Alltag

Trauma – sein Entstehen und Heilen, sein Wirken und seine Kräfte – ist keine Randerscheinung, die einige unglückliche Individuen betrifft (mehr dazu im weiteren Verlauf dieser Serie). Sie ist eine alltägliche Dynamik in unser aller Leben, die sich verbergen mag, weil „alle so sind“ und weil wir in unserer kulturellen Dissoziation selbst für die eigene Taubheit zu taub geworden sind – dennoch ist Trauma ein Moment in jedem einzelnen menschlichen Leben. Unsere Phobie, das Thema Trauma anzufassen, und unser Reflex, ausgerechnet hier nach Kliniken und Pathologien zu suchen, ist nichts als mentale Abspaltung von der Realität, in der unsere Körper leben.

Hier ist die Forschung in den letzten Jahrzehnten durch die großartige Arbeit von Peter Levine viele 7-Meilen-Schritte vorangekommen. Aus Levines Forschungen wissen wir, dass Traumaheilung auch bei uns „zivilisierten Menschen“  immer noch ein Hoheits-Gebiet unserer Körper-Instinkte ist, und dass alle Ausbildungen, Zertifikate und Methoden dieser immensen körperlichen Weisheit bloß hinterherhinken. Wir mögen uns fortschrittlich vorkommen, dennoch stellt uns in Sachen Leben jedes „primitive“ Tier in den Schatten. (Hingen Heilungen tatsächlich von menschlicher Kultur und menschlichem Vermögen ab, wären wir schon vor 101 Generationen in unseren unzähligen offenen Wunden ertrunken.)

Statt Traumaprozesse also bewusst lenken und organisieren zu können, brauchen wir eher Atmosphären, Stimmungen, Menschen, die uns sehen, wie wir sind, und die uns ermutigen dazusein – schon kann unversehens eines unserer Traumata in Bewegung geraten und die Dynamik der Heilung in Gang setzen.

Balanceakt zwischen Potential und Risiko

Ohne Zweifel: Yonimassagen sind Räume solcher großer Einladung – sie ermutigen und unterstützen uns körperlich, ganz dazusein – so, wie wir sind. So kommen die Erfahrungswerte der Tantramassage zustande, dass sich Ängste, die mit Körper, Sex und Lust zusammenhängen, darin zeigen und lösen können. Eine Form von Therapie sind Tantramassagen deshalb aber noch nicht. Die offiziellen Verbände der Szene weisen darauf auch ausdrücklich hin. Denn einen großen Raum zu öffnen, ist wundervoll – einen großen Raum dann auch tatsächlich „zu halten“, wenn ein Körper beginnt, seine Traumata zu ent-laden, ist jedoch ein Vermögen, welches niemand organisieren kann wie ein Zertifikat. Hier braucht es all die Zeit und all die Erfahrung, die wir Menschen nun einmal brauchen, um „menschliche Tiefe“ zu lernen. Das betrifft eine Tantramasseurin in ihrer Arbeit ebenso wie eine Überlebende von Missbrauch – ebenso wie all die anderen Rollen, die in unseren Leben denkbar sind.

Eine Ausbildung in Tantramassage beinhaltet keine therapeutische Qualifikation. Glücklicherweise bemüht sie sich aktuell aber um eine stärkere Vernetzung mit Frauenheilkunde und Sexualtherapie, so dass die „Therapie-Landschaft“ mitsamt ihrer neugierigen Klientinnen von dieser Arbeit profitieren und lernen kann.

 

Sicherheitsnetze für die Begegnung von Tantra und Trauma

Das Perfide an sexuellem Missbrauch ist, dass die meisten betroffenen Kinder verinnerlichen, an dem Missbrauch (mit-)schuldig zu sein. Wenn dann später Nähe, Vertrauen oder Intimität scheitern, taucht dieselbe Figur wieder auf: selbst daran Schuld zu sein. Mitsamt aller Einsamkeit und Scham und Überforderung, die ein solcher Irrtum auslöst, wenn wir früh gelernt haben, ihm zu glauben…

Deshalb ist so wichtig, die Erlebnisse, die eine Yonimassage auslösen kann, möglichst gut abzusichern gegen diese Spirale aus Scham und Schweigen. Niemand möchte, dass sexuelle Heilungsreisen in Sackgassen führen oder sich im Kreis drehen. Dennoch und genau deshalb kann uns ein traumaspezifischer Blick helfen, an diesem Punkt sehr klar zu sein: Yonimassagen sind ein großes Wagnis, wenn eine Frau als Mädchen sexuell verletzt wurde, zumal noch bevor sie die Lebenszeit hatte, eigenständig ihre Sexualität zu erforschen und zu genießen. Auf späteren Berührungen lastet automatisch diese schwere Frage: „Meinst du wirklich mich? Bin ich wirklich wichtig?“

Yonimassagen möchten aber genau das in einem Kontext aus Sinnlichkeit und Lust vermitteln: gemeint zu sein. Wichtig zu sein. Damit liegt in den Armen einer Yonimassage ein großes Potential. Und die große Aufgabe, mit der eigenen Kraft wach und sorgfältig umzugehen. Denn je mehr uns etwas heilen kann, desto mehr kann es uns auch verstören. Uns bis ins Knochenmark treffen, unsere erst so zarten Hoffnungen wieder zunichtemachen… Im schlimmsten Falle bezeichnen wir solche Erlebnisse dann als „Re-Traumatisierung“.

Im Laufe dieser Artikel möchte ich immer wieder vorschlagen, wo wir Netze und doppelte Böden in diese tantrischen Räume einziehen können, um das Potential der Yonimassage ohne Angst vor Risiken nutzen zu können.

Wir können das in diesem Text in 3 Punkten benennen:

  1. Vertrauen
  2. Nach der Massage
  3. Sich Zeit geben

IN BEZUG AUF YONIMASSAGEN HEISST DAS:

FÜR DICH ALS KLIENTIN:

*Vertrauen:

Finde eine Masseurin, mit der die Chemie stimmt und die du als Mensch magst. Weil viele Tantramasseurinnen hauptsächlich mit Männern arbeiten, ist außerdem wichtig, dass sie sich in der Arbeit mit Frauen und weiblichen Genitalien sicher und vertraut fühlt. Du brauchst ihre Ruhe und Erfahrung, wenn du selbst Angst erlebst, um dich wieder regulieren zu können. Ideal wäre natürlich, wenn deine Tantramasseurin selbst einen sexuellen Heilungsweg gegangen ist und deine Situation in ihrer Tiefe sehen kann. Dadurch kennt sie vielleicht selbst die Erlebnisse, die du kennst, und weiß, wie schnell, unsichtbar und automatisch Dissoziation passieren kann. Selbst wenn das deine Mechanismen noch nicht sofort wegzaubert, ist eine solche kluge Begleitung unendlich viel wert.

Finde unabhängig davon jemanden, die sich mit Trauma auskennt. Natürlich fällt es uns viel leichter, sexuelle Themen in einem Setting anzusprechen, dem wir sexuelle Offenheit zutrauen. Dennoch solltest du dich nicht allein von tantrischen Settings abhängig machen. Du brauchst Vertrautheit mit jemandem, die sich mit Trauma auskennt, damit sie im Zweifelsfalle deiner Einsamkeit, Entmutigung oder deinen Selbstzweifeln fachlich fundiert begegnen kann. Exzellente Beratungen und Vernetzungen bietet beispielsweise das FFGZ in Berlin. Gönn dir diese „Netze und doppelten Böden“ – du wirst dich während deiner Yonimassage mehr entspannen können, weil auf der Begegnung mit der Masseurin nicht ganz soviel Gewicht und Bedeutung lastet.

*nach der Massage:

Viel Zeit für die Integration ist wichtig. Dafür musst du zum Einen direkt nach der Massage, noch im Raum, Zeit einplanen, als auch in den folgenden Wochen aufmerksam sein, wie sich das Erlebnis mit einigem Abstand für dich anfühlt. Es kann gut sein, dass im Laufe der Zeit viele verschieden Schichten in deinem Erleben dazu bewusst werden, und es ist sehr wichtig, dass du diese Schichten nicht bekämpfst oder wegschiebst, sondern es durch Zulassen, Aufschreiben und Erzählen integrierst. Hierfür brauchst du ggf. dein „Netz aus Eingeweihten“, das du vorsorglich gewoben hast:-)

*sich Zeit geben:

Nervensysteme brauchen Zeit und Kontinuität, um alte Wunden verheilen zu lassen. Gib dir diese Zeit. Trauma kann blitzartig sein, aber Heilung nicht. Rechne am besten gleich zu Beginn damit, dass du mehrere neue, gute sexuelle Erfahrungen (also z.B. schöne Yonimassagen) brauchen wirst, um alte Spannungen Schicht um Schicht abzutragen. Wenn du tantrische Massagen in deinen Heilungsweg integrieren möchtest und eine Masseurin gefunden hast, mit der du dich wohlfühlst, solltest du also eine Serie von Massagen vereinbaren, damit dein Körper langsam, in seiner Zeit, aus der alten Angst auftauen kann.

 

FÜR DICH ALS TANTRAMASSEURIN:

Sicherlich beinhaltete deine Tantra-Ausbildung Teachings zu energetischen Blockaden im Körper, zu tauben Bereichen in der Vagina und zu dem Problem der Dissoziation. Du bist mit einigen Symptomen von sexuellem Missbrauch also vertraut. Dennoch kann gut sein, dass du mit einer Überlebenden von sexuellem Missbrauch arbeitest und die Erfahrungen dieser Frau anders und vielleicht gewaltiger sind als das, was du gelernt hast. Das ist nicht schlimm – wir alle können von Traumata immer noch mehr lernen, von unseren eigenen und von denen der Menschen in unserem Leben.

Bitte lade die Frau aus ganzem Herzen ein, ihr Erleben mitzuteilen. Nimm dir auf jeden Fall nach der Massage extra viel Zeit für ein Nachgespräch. Wenn es zu deiner Arbeits-Haltung passt, kannst du die Klientin auch einladen, dir nach ein paar Tagen noch einmal zu schreiben, so dass sie Zeit hat, um das Erlebnis zu integrieren. Schlag vor, dass ihr eine Serie von Yonimassagen vereinbart, damit sich der Prozess und eure Zusammenarbeit in Ruhe entwickeln können.

Zu sprechen kann übrigens auch während der Massage eine Hilfe sein, damit ihr in einem präsenten Kontakt bleibt und du deine Klientin nicht unterwegs in der Dissoziation „verlierst“. Die größte Hilfe für deine Klientin bist du genau dann, wenn du dich selbst dabei gut in deinem eigenen Körper spürst und wenn du der Kraft und Sicherheit von deinem Spüren vertraust. Das macht es für eine Frau, die lernen möchte, sich nicht von ihrem Körper abzuspalten, einfacher, weil ihr Nervensystem automatisch die Orientierung an deinem Nervensystem nutzen kann.

Sollten problematische Dinge auftauchen, nimm sie bitte nicht persönlich. Hier ist auch wichtig, dass du dir selbst zugestehst, mehr Zeit als sonst zu brauchen, um tiefe Prozesse deiner Klientin selbst zu verarbeiten. Es IST anstrengend, Themen von so tiefem Schmerz zu berühren wie Missbrauch – übergeh diese Anstrengung nicht, wenn dein Körper Ruhe braucht.

Du musst auch nicht mit Frauen arbeiten, denen du zwar von Herzen gute Erfahrungen gönnst, die dich persönlich aber unsicher machen oder überfordern. Es ist gut, wenn du ein paar erfahrene Tantra-Kolleginnen hast, an die du weiter vermitteln kannst.

Darüber hinaus wäre es großartig, wenn du Trauma-Therapeutinnen kennst, mit denen du zusammenarbeiten kannst und die du Klientinnen empfehlen kannst, um deine Sessions zu ergänzen. Denn du sollst und musst dich nicht verantwortlich fühlen und nicht verausgaben. Du brauchst die Therapeutin nicht zu ersetzen. Und es ist überhaupt keine Schande, wenn du im Zuge dieser Begegnung selbst an „deine Themen“ kommst, im Gegenteil! Alle Menschen, die große Räume der Heilung halten können, haben wieder und wieder ihre eigene Traumata genutzt, um sich an den Altar der Wunde zu knien und zu lernen…

 


Ich bin mir im Klaren darüber, dass Körperarbeit und tantrisches Hands-On schwer in Worten zu vermitteln ist. Wer die Variationen und Hinweise aus dieser Artikelserie praktisch lernen und vertiefen möchte, ist herzlich zur Fortbildung „Tantra und Trauma“ in Berlin eingeladen, die ich gemeinsam mit meinem Partner Mari leite.

 

Bist du als Überlebende oder als Masseurin schon einmal diesem Thema begegnet? Natürlich kannst du mir gerne deine eigenen Erfahrungen mitteilen! Und ich freue mich sehr, wenn du diesen Text weiterleitest an Menschen, die mit Tantra und Trauma ebenfalls in Berührung kommen. Danke!

 

©Ilan Stephani